Publikationen

_Buch

Buch_HGB,

Vorwort Buch zur Ausstellung in der Galerie der HGB, Leipzig

Anlass für dieses Buch war die Ausstellung Standard Euro_InfoRaum. Ein Projekt von Anne Metzen, die vom 5.4. bis zum 1.5.2013 in der Galerie der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig stattfand.

Der Standard Euro_InfoRaum, wie er in der HGB inszeniert wurde, stellte ein Zwischenresümee nach gut sechzehn Jahre Entwicklung, Konkretisierung, Profilierung und Verdichtung des Systems Standard Euro dar. Er markierte das Ende des Stadium1, in dem die Methodik, das Regelwerk, die Nomenklatur etc. herausgebildet wurden. Die Ausstellung bot die Möglichkeit, Stränge zusammenzuführen, neue Verknüpfungen zu denken, alte wiederzuentdecken und auch vereinzelte Ausblicke auf das nächste Stadium von Standard Euro zu geben.

Standard Euro sammelt, inventarisiert und archiviert Informationen. Das meint: Phänomene des Alltags und des täglichen Weltgeschehens werden in Form von gefundenen oder selbst angefertigten Objekten, Bildern und Texten zusammengestellt. Unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Standardisierung, Normierung und Formalisierung werden diese Informationen klassifiziert und abgelegt. In den sechzehn Jahren seiner Arbeit hat Standard Euro dabei eine elaborierte Informationssammel-, Informationsverwertungs- und Informationsarchivierungsarchitektur ausgebildet.

Der Name dieses Forschungsprojektes ist der Verwaltungssprache entlehnt:

Standard Euro bezeichnet eine gängige Verpackungsnorm. Hier klingen drei Bereiche an, die für das künstlerische Projekt essentiell sind: (1) Sprache: die Taxonomie ist eine der wichtigsten Methoden, um Informationen wie Objekte zu sortieren, zu systematisieren, in eine existente Ordnung einzufügen. Die eigens von Standard Euro ausgebildete Nomenklatur bildet sprachlich die Struktur seines Ordnungssystems ab; (2) Verpackung: Über Kisten, Kästen und Schachteln, Objekte und Texte, die bestimmte Inhalte transportieren (oder auch nicht) tritt Standard Euro in Erscheinung; (3) Norm: Um Normierungen und Standards, ihre phänotypischen Ausprägungen, ihre Sinnhaftigkeit und Auswirkungen kreist alles Sammeln, Inventarisieren, Sortieren und Archivieren des Projektes Standard Euro.

Die Archivierungsarbeit Standard Euro ist ein offener Forschungsprozess. Gefundene Freie Standards materialisieren sich in Belegen oder visualisieren sich in Listen. Objektgruppen zu einzelnen Fragestellungen, etwa zu ikonischen Chiffren wie Kniefall oder EreignisWolken, werden zu Präsentationszwecken zu InfoRäumen zusammengeführt. Sämtliche InfoRäume stellen vorläufige Endprodukte der Recherche dar und sind gleichzeitig immer nur ein Ausschnitt der auf unendlich angelegten Forschung.

Das Sammelprinzip von Standard Euro gleicht einer semipermeablen Membran: Bestimmte Informationen oder Objekte werden in das System inkorporiert, fast nichts jedoch verlässt wieder das System; Müll, Übriggebliebenes, Verworfenes wird zu neu zu bearbeitendem Material. Die Struktur von Standard Euro erstreckt sich in drei Dimensionen gleich einem komplexen Molekülaufbau, sie bildet sich aus der multiplen Verschränkung seiner drei Bereiche Entwicklung, Systemverwaltung, Bestand. Der Bestand wird sichtbar über Belegstücke, die im Ausstellungszusammenhang in oder auf speziell angefertigten Normkisten, den so genannten InfoKisten, präsentiert werden wie z.B. Drucke oder Filzreliefs. Die Systemverwaltung erschließt sich über Karteikarten, Listen und die u.a. als Vorlagen dienenden Medienbilder. Die Entwicklung dieses Denksystems entfaltet sich schließlich über eine Präsentation von Klemmbrettern, Anschauungstafeln und anderem Material.

Jeder Ausstellung von Standard Euro eignet etwas ebenso Filmisches wie Narratives. Durch Verknüpfen der angebotenen Informationssplitter entspinnt sich eine Erzählung, durch ein Springen zwischen den Splittern kann man verschiedenen Erzählsträngen folgen und diese miteinander verknüpfen. In bester Short-Cut-Manier verschränken Präsentationen von Standard Euro einzelne, klar definierte und ausgearbeitete Themen zu einem organischen Ganzen, bei dem alles mit allem zusammenhängt. Jede Präsentation collagiert bestimmte Einzelaspekte oder Themencluster aus dem Standard Euro Ganzen, die Auswahl ist dabei subjektiv und antizipiert gleichsam das Mäandern, die Ellipsen und arbiträren Sprünge der Rezipienten im Ausstellungsparcours.

Diese Art, eine Standard Euro Ausstellung wahrzunehmen, wurde für das Buch zum Ordnungsprinzip erhoben. Von der Halbtotalen – ein Blick ins Arbeitsarchiv von Standard Euro – zoomt das Buch in verschiedene Behältnisse und deren Inhalte: Auf die Bilder der Kisten folgen Abbildungen der sich darin befindlichen Belegstücke wie z.B. die Drucke der WüstenFelder, der EreignisWolken oder das Filzobjekt MatterHorn . Dem nachgeordnet ist ein Karteienregister, ein Listenteil und ein Bildteil. Während der Bildteil in Leserichtung von links nach rechts organisiert ist und sich über die Einzelseiten hinweg fortsetzt, funktioniert das Lesen des Listenteils von oben nach unten, setzt sich dabei auch über die Einzelseiten hinweg fort (so dass sich die Fortsetzung von S.6 z.B. auf S.8 fände, die Fortsetzung von S.7 z.B. auf S.9). Das ermöglicht, Verschiedenes gleichzeitig in den Blick zu nehmen, somit Verknüpfungen herzustellen, Vergleichbarkeit wahrzunehmen, parallel zu lesen.

Gegen Ende des Buches findet sich in Ausschnitten das Regelwerk von Standard Euro. Und auf den letzten Seiten schließlich eine Bildstrecke der Ausstellung in Leipzig: des Standard Euro_InfoRaum, womit sich der Bogen schließt. Jeder Zoom in einen Erzählstrang, z.B. den der Bildstrecke oder des Listenwerks, ist gespickt mit Verweisen auf andere Teile des Buches, andere Stellen des Standard Euro Systems, an denen eine Detailinformation auch verankert ist und ggf. eine neue/andere Lesart eröffnet.

Dieses Buch funktioniert ein Stück weit wie die Rezeption einer Standard Euro Ausstellung, entsprechend kann es gehandhabt werden. In eine Linearität gebracht zeigt es Objekte, Bilder, Listen u.a. mit ihren Verknüpfungen zu- und untereinander. Damit entflicht es die Komplexität des Systems in ein les- und betrachtbares Nacheinander. Sowohl die Abfolge als auch die Verknüpfungen sind dabei fakultativ, arbiträr und subjektiv.

Dieses Buch ist ein Katalog und es ist kein Katalog. Es zeigt die Paletten, Kisten, Objekte, Listen, Tabellen, Schnipsel, Zeitungsausschnitte, die auch in Leipzig gezeigt wurden. Allerdings: Weder flankiert, noch dokumentiert, noch illustriert, noch kontextualisiert es die Ausstellung.

Dieses Buch ist ein Werkverzeichnis und es ist kein Werkverzeichnis. Zwar inventarisiert es die bisherigen Materialisationen, Visualisierungen, Strukturen und Verknüpfungen von Standard Euro. Seine Logik jedoch folgt nicht einem wissenschaftlichen, sondern einem künstlerischen Denken. Es verzeichnet nicht ein abgeschlossenes Werk, sondern eine Momentaufnahme eines sich ständig verändernden und erweiternden Forschungsprozesses. Das Buch ist der Versuch, das rhizomatische Wachstum von Standard Euro zu protokollieren und zu veranschaulichen.

Und: Der Prozess des Buchlesens, des Vor- und wieder Zurückblätterns durch eine Auswahl macht den Prozess des sich ‚In das System Standard Euro Hineinbegebens’, das Sich-Erschließen der Strukturen, Aspekte, Darstellungsarten Seite für Seite körperlich erfahrbar. Verknüpfungen werden auf eine bestimmte, von Rezipient zu Rezipient individuell andere Art hergestellt. Eine neue (Doppel-)Seite öffnet eine andere Welt.

Das Buch, wie jede Ausstellung von Standard Euro, ist nur ein Ausschnitt aus dem Ganzen, eine Auswahl, die getroffen wurde – getroffen von Anne Metzen, der Künstlerin, auf die das Projekt Standard Euro zurückgeht und die es seit 1997 betreibt. Ganz bewusst tritt Anne Metzen in den Hintergrund und leistet damit einer bestimmten Wahrnehmung von Standard Euro Vorschub: Standard Euro wird vorgestellt als Gerüst, das befüllt wird, als eine ent-subjektivierte Struktur, als ein System, das mitunter ein kafkaesk anmutendes Eigenleben entwickelt.

Neben dem wichtigen systemischen Aspekt hat der skulpturale ein mindestens so starkes Gewicht, wenn auch nicht in der Lesart, wie sie das Buch hier nahe legt. Im Ausstellungszusammenhang allerdings wird das Konzeptuelle konkret, hier stapeln sich raumgreifend und bildhauerisch im eigentlichen Sinne des Wortes Paletten, Regale, Kisten, Kästen, Schilder, Karten, Tafeln, Drucke und Schablonen, Stempel und Listen... Hier wird der Prozess des Sich-hinein-Begebens-in-die-Materie als Eintauchen in einen informatorisch und gestalterisch dicht befüllten Raum erfahrbar. Dass Anne Metzen nach ihrem Studium der Visuellen Kommunikation lange als Setdesignerin für Film und Theater gearbeitet hat, wird in ihren Ausstellungsinszenierungen an zahlreichen Details sichtbar.

Ebenso scheint ihre Haltung als Künstlerin durch: Anne Metzen zeigt sich als aufmerksame und kritische Beobachterin, die mitschreibt an gesellschaftlichen Diskursen. Der Fokus von Standard Euro auf absurd übersteigerte Verfahren des Inventarisierens und Archivierens kann auch gelesen werden als Kommentar zu unserer Wissens- und Informationsgesellschaft. Die Auswahl ihrer Belege zeigt ihr Gespür für Bildmotive, die als fast universell lesbare Chiffren unsere Kultur beleuchten; besonders deutlich wird das vielleicht bei der Gruppe der EreignisWolken(ErWol), Graphitstaubschablonierungen von Wolken nicht-meteorologischen Ursprungs, die infolge bestimmter Ereignisse entstanden sind, wie z.B. des Atombombenabwurfs auf Nagasaki 1945, des Absturzes der Challenger 1986, des Attentats auf die TwinTowers 9/11 oder der Reaktor-Katastrophe von Fukushima 2011. Entkontextualisiert und in neuem Zusammenhang gebündelt entfalten die Bildmotive ihre Kraft als Chiffren für menschengemachtes Grauen, für Hybris, Unglück und Katastrophe. Über das Verfahren der Taxonomie schließlich verweist Standard Euro auf die Untiefen von Verwaltungsapparaten, ebenso wie sie Sprachpolitik (z.B. der Wissenschaften) als soziales Distinktions-, und Machtinstrument thematisiert.

Standard Euro verarbeitet alltägliche Erscheinungen, ordnet Welt und bereitet sie in einer Art auf, die andere als die gängigen Lesarten anbietet. Standard Euro ist eine Art Wahrnehmungsreguliermaschine, die bestimmte Aspekte unseres Lebens – Medienbilder, Politikergebaren, kulturelle Manifestationen – scharf stellt und in neuen Zusammenhängen anders wieder lesbar macht. Der subtile Humor des Projektes zeigt sich in der trockenen Sprödigkeit seiner Präsentationen, in den auf die Spitze getriebenen Anleihen an Verwaltungssprache (Abkürzungen), im Adaptieren wissenschaftlicher Verfahren (Typologien, Taxonomie) und in der Absurdität, die durch das Zusammenstellen von Bildern (z.B. in Vorlagenkarteien) und das Ausreizen von Konsequenz im Anwenden gesetzter Parameter und Regularien entsteht.

Im Standard Euro System gibt es viele Grauzonen, uneindeutige oder doppelte Zuordnungen, Sackgassen, Fehlstellen. Gleichzeitig gibt es eine Fülle von Zusammenhängen zu entdecken, mitunter verstörende, aber auch beglückende Erfahrungen zu machen. Durch die Präsentationsform ‚Buch’ erhält Standard Euro eine ganz andere Rahmung als in einer Ausstellung. In seiner Materialfülle, seiner Dichte und vor allem der visuellen Aufbereitung ist das Buch eine Einladung an jede Leserin und jeden Leser, tief einzutauchen in das System Standard Euro, ein Bad zu nehmen in der Materie.

Dr. Silke Feldhoff

(Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin der Standard Euro_InfoRaum-Ausstellung in der HGB Leipzig

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_Presse Texte

Zeitungsartikel Jörg Häntzschel - Süddeutsche Zeitung,

Feuillton GROSSFORMAT, vom 3./4.9.2016

Kniefälle, Frauen mit Blumen, Vulkanausbrüche: In Zeitungsfotos kehren dieselben Motive regelmäßig wieder. Anne Metzen sammelt diese Bilder für ihr Projekt „Standard Euro“ seit 20 Jahren

Mitte der Neunzigerjahre fiel Anne Metzen beim Zeitungslesen etwas auf: Die Fotos, vor allem auf den Nachrichtenseiten, ähnelten sich, die Motive kehrten immer wieder: Explosionen, Politiker, die Stimmzettel in Wahlurnen stecken, Politiker, die Tribünen verlassen, Trauernde, die Särge tragen, Gerangel in Parlamenten. Sie begann die Bilder auszuschneiden und zu sammeln. Und zu ordnen, in Gruppen und Untergruppen. Und das tut sie für ihr Projekt „Standard Euro “ jetzt seit fast 20 Jahren. Je mehr Bilder sie hatte, desto spezifischer die Klassifizierung: Menschen mit Atemschutzmasken, Gasmasken, Staubmasken. Protestierende beim Marschieren, mit Transparenten, Protestierende, die nur dastehen. Metzen ging es nicht um Medienkritik. Es ist ihr auch gar nicht wichtig, ob Säcke - ein anderes dieser wiederkehrenden Motive - Drogen oder Saatgut enthalten. Metzen interessiert sich für die formale Ähnlichkeit der szenischen Klischees, mit der Weltereignisse immer wieder illustriert werden. Und für den Witz von Wiederholung und Variation, etwa in den hier abgedruckten vier Bildern von Angeklagten, die ihre Gesichter verstecken. Sie nennt sie „Die Unsichtbaren“. Doch das Sammeln und Archivieren der Bilder, das Aufkleben und Nummerieren, die „Ermittlung des freien Standards“, wie sie es nennt, ist nur der erste Schritt ihres Workflows, den sie auf dieser Seite dargestellt hat. Im nächsten schafft sie aus den gesammelten Phänotypen den „Beleg“. Mal ist das eine abstrahierte Version der Bilder, mal ein dreidimensionales Modell. Für sie, so Metzen, seien alle diese Bemühungen, die wuchernde Nachrichten-Ikonografie künstlerisch in den Griff zu bekommen, eine „Suche nach Gewissheit“. Und was würde mehr Gewissheit bieten als Wissenschaft? Metzen, die eigentlich Bühnenbildnerin und Set-Designerin ist, hat für ihre 3000 Zeitungsbilder und die „Belege“ ein bis ins Groteske übersteigertes Ordnungssystem entwickelt - samt von ihr selbst gefertigter Archivbehälter und Accessoires wie modifizierten Euro-Paletten und Tauen. Das „Regelwerk“, das sie sich dafür auferlegt hat, umfasst 40 Seiten. Metzen, die schon immer ein Faible für die Ästhetik des Wissenschaftlichen hegte, hat sogar ihr eigenes Institut gegründet, das „Institut für Fiktive Forschung“.

img001.jpg, Zeitungsartikel Jens Kassner – Leipziger Volkszeitung, Zeitungsartikel Uta Baier – Berliner Zeitung, Zeitungsartikel Uta Baier – Die Welt, Zeitungsartikel Konstantin Kumpfmüller – Radiosender Mephisto

_Kuratoren Texte

Dr. Silke Feldhoff,

Dr.Silke Feldhoff

Taxonomie* wird Kunst – das Denksystem Standard Euro feiert heiter die Untiefen unserer Alltagskultur und nebenbei sich selbst.

Standard Euro, initiiert und betrieben von Anne Metzen, widmet sich seit 1997 der gedanklichen Erschließung und Vermittlung lebensweltlicher Phänomene aus den Bereichen Organisation, Kommunikation und Wahrnehmung. In einer Selbstbeschreibung nennt sie ihr Anliegen das „Erforschen und Systematisieren von Standardisierungen, Formalisierungen, Normen“.

Das sieht so aus, dass sie aus ganz normalem Alltagsleben zum einen qualitative Muster, Strukturen von Durchschnittsbeschaffenheit extrahiert, auf der anderen Seite einzelne Höhepunkte, das ‚Typische‘, das als pars pro toto größere Zusammenhänge beleuchtet. Dieses Sammeln und Analysieren der selbstbeauftragten Feldforscherin in quasi-philosophischer Mission geht seit Gründung in einem bis dato unabgeschlossenen work in progress Hand in Hand mit der Entwicklung eigener Systeme zur Klassifizierung, Kategorisierung, Benennung und Darstellung ihrer Forschungsergebnisse gegenüber Anderen. Dabei lehnt sie sich an bereits etablierte Ordnungssysteme an, die sie in ironischer Brechung, absurder Übersteigerung oder auch vorgeblicher Sinnverweigerung für ihre Zwecke modifiziert. Damit haben wir vor uns: eine Taxonomin, deren Untersuchungsgegenstand ein signifikant anderer ist, als derjenige von Biologen oder Linguisten, die sich nichtsdestotrotz in sehr starkem Maße der Sprache bedient, um den Aufbau eines kulturellen Systems zu beschreiben. Hier vergegenwärtige man sich nur die aberwitzige Nomenklatur ihres Systems, das en passant Wissenschaftsterminologie und Verwaltungs-klausulierungen persifliert. Dies ist aber nur ein – wiewohl sehr attraktiver – Nebenschauplatz. Das Herzstück der Standard Euro’schen Taxonomie liegt in seinem System und in seinen Beständen. Hieraus speist sich der untergründige Witz der Arbeit, ihre Potenz und Relevanz. Denn während auf den ersten Blick ein besonderes Faible für das Absonderliche, eher Abseitige, vielleicht absurd Erscheinende als Auswahlkriterium das Charakteristikum dieser Sammlung zu sein scheint, ist es doch vielmehr so, dass erst die Art der Auswahl und dann der Darstellung das ‚Typische‘ in seinem skurrilen Charme, seinen abgründigen Konnotationshöfen, seinen mitunter entlarvenden Formalismen sichtbar macht. Der ‚Bestand‘ von Standard Euro besteht bisher aus dem System mit den Bereichen „DiInf“ (DieInfos), „DiFir“ (DieFirma), „NorFi“ (NormFilz), „GreFE“ (GrenzenFür Europa), „DeVer“ (DerVerein), „EheMa“ (EheMachen) mit den entsprechenden ‚Beleg-stücken‘; dies sind Bildkürzel oder allgemein bekannte Bildformen. Von der medialen Aufbereitung her selbst standardisiert liegt der Bestand in Form normierter InfoKarten, InfoRäume und des InfoNet vor, also digital, analog in Form von Objekten, Papierarbeiten, Fotos und darüber hinaus in der Etablierung von Raumsituationen. Die einzelnen Belegstücke selber finden sich in Normkisten von 70 × 50 × 10/20/30/40/50 cm Größe archiviert. Ist das „Einkisten“ (=Archivieren) bereits eine Methode aus dem Wissenschaftsbereich, so kann erst recht das Stapeln der Kisten als attraktives bildliches Äquivalent zum Verfahren der „historischen Schichtung“ gelten. Bei den archivierten Belegen handelt es sich zudem um Transformationen von Realien, das heißt von gefundenem oder dokumentiert gefundenem Alltagskulturgut wie bestimmten Bildern, Formen, Materialien. Diese Funde sind Ideengeber für Objekte, die dann extra hergestellt werden; in enger Anbindung an ihren Ursprung im Gewöhnlichen, aber eben mit dem entscheidenden shift / der entscheidenden kleinen Verschiebung, so dass sie ins Raster von Standard Euro passen und als Belegstück eine ihrer Behauptungen visualisieren. Durch das gezielte Isolieren, Analysieren, Transformieren und der öffentlichen Wahrnehmung wieder neu / anders Zuführen solcher Funde werden die Belege zu besonderen, sprechenden kulturellen und auch kulturhistorisch relevanten Zeugnissen. Aus kunsthistorischer Sicht gilt es hier eine deutliche Affinität zu wichtigen Strömungen der Kunst der 1990er Jahre zu konstatieren, in denen sich Diskurse um die Themen Alltag und Alltagszeugnisse und die Methoden des Sammelns und Archivierens bündelten. In unserem Zusammenhang ergiebiger dürfte die Beobachtung sein, dass sich Standard Euro mit dem Sammeln und Archivieren von Belegen, die ihren Ursprung und ihre Begründung in aktuellen zeitgenössischen Realien tragen, in eine gewisse Nachbarschaft zur Zeithistorischen Archäologie begibt, einer noch jungen Wissenschaftsdisziplin, die, ähnlich der Kultursoziologie in den 1990er Jahren, noch ihrer wissenschaftlichen Begründung als interdisziplinäre Forschungsrichtung zwischen Archäologie und Geschichtswissenschaft harrt. Durch die Entwicklung eines eigenwilligen Systems sowie einer eigenständigen Nomenklatur geht Standard Euro deutlich auf Distanz, ohne methodische und thematische Anleihen zur Kultursoziologie und zeithistorischen Archäologie zu leugnen. Es zelebriert ein selbstironisches Spiel von Aneignung und Brechung (auch darin Diskursen der 90er verwurzelt); sein Skeptizismus bricht sich Bahn in dem Moment, in dem es den Objektivierungs- und Klassifizierungswahn der Wissenschaft durch einseitige Forcierung bestimmter Aspekte, durch offengelegte Fakes und durch sprachliche Absurdismen unterläuft. Den Fokus allerdings ausschließlich auf solche Brechungen zu richten, griffe beim Versuch, sich das Denksystem Standard Euro zu erschließen, zu kurz. Vielmehr betreibt Anne Metzen mit Standard Euro ein Unterfangen, das knallharte Konzeptkunst mit Spaß und sinnlicher Umsetzung paart – und das nicht im luftleeren Raum, sondern im prallen Leben, in das wir alle eingeschrieben sind und in das wir uns permanent selbst neu einschreiben. Standard Euro praktiziert, was die ehemalige Leiterin des Bonner Kunstvereins, Annelie Pohlen, vor Jahren so schön mit „Kunst als kreative Grundlagenforschung“ beschrieb: Als selbstbeauftragte Feldforschung widmet sie sich dem Anliegen, Licht auf Unterströmungen kultureller Manifestationen zu werfen, die – z.T. erschreckend, z.T. belustigend, z.T. auch beides zusammen – ansonsten aus der Wahrnehmung kippen oder auch bewußt aus der Wahrnehmung gedrängt werden. Standard Euro wandert munter auf diversen Bergrücken medialer – kommunikationstechnischer und wahrnehmungspsychologischer – Verwerfungen. Von diesem Grat aus gibt es einen recht guten Überblick über die Untiefen unserer Alltagskultur. Hieraus schöpft es seine konkreten Themen, seine Sprache, seine Bilder. Mit diesen baut es sein alternatives Denksystem Standard Euro – eine mögliche Anleitung, Welt anders zu begreifen, eine Denkalternative quasi-philosophischer Manier. Daß im Moment der Erleuchtung ein breites Grinsen die natürliche Reaktion des einen oder anderen Rezipienten zu sein scheint, dürfte alle Beteiligten erfreuen.

Taxonomie= wissenschaftlicher Terminus, ursprünglich aus der Biologie. Bezeichnet im engeren Sinne die Einordnung von Lebewesen in ein (biologisches) System, im weiteren Sinne das Klassifizieren und entsprechende Benennen neu entdeckter oder gezüchteter Pflanzen. Taxonome sind entsprechend diejenigen, die Taxonomie betreiben; gebräuchlicher Terminus bei Forschungen im Umfeld von Rosen- oder Orchideenzüchtungen. Der Terminus wurde adaptiert von der Sprachwissenschaft und bezeichnet hier dasjenige Teilgebiet der Linguistik, auf dem man durch Segmentierung und Klassifizierung sprachlicher Eigenheiten den Aufbau eines Sprachsystems beschreiben will. Übertragen auf die Arbeit von Standard Euro meint der Begriff ‚Taxonomie‘ das Segmentieren, Klassifizieren und spezielle Benennen alltagsweltlicher Phänomene und Strukturen und ihrer entsprechenden Belege zur Verdeutlichung des Aufbaus des von der Künstlerin behaupteten kulturellen Systems.

Silke Feldhoff, Berlin 2005

Dr. Nike Bätzner

Dr. Nike Bätzner

Anne Metzens Standard Euro als Informationswolke: „Listen to the Listening Station“

Seit 1997 treibt Anne Metzen das Projekt „Standard Euro. Ermittlung und Archivierung Freier Standards“ voran. Ganz selbstverständlich gehen wir täglich mit Standards um, kaufen, gleich wo auf der Welt, genormte Flaschen für den Durst unterwegs, gehen überall ins Internet, nutzen unsere Kreditkarten. Standardisierungen sind für den interkulturellen und wirtschaftlichen Austausch unumgänglich: Ohne die weltverbindliche Zeitrechnung, in Äquivalenzen setzbare metrische Längen- und Gewichtsmaße sowie gegeneinander aufrechenbare Währungen, ohne die normierten Frequenzen der Telekommunikation wären unsere transnationalen Interaktionen nicht denkbar. Doch zugleich wird Kritik laut an der Überreglementierung beispielsweise seitens der Europäischen Union, an der Standardisierungen von Lebensmitteln, der Normierung von Qualitätsstandards ebenso wie von bürokratischen Abläufen. Das Ziel einer behördlichen und ökonomischen Integration der Mitgliedstaaten, vordringlich dem Verbraucherschutz, dem Umweltschutz, einer alles umfassenden Marktorientierung dienend, bedeutet auch eine Abwehr des Fremden, einen Ausschluss des Anderen, einen Bann gegen alles jenseits des Normalmaßes.

Doch wer maßt sich die Definitionsmacht an? Anne Metzen setzt dieser Durchorganisation unserer Welt eine Ermittlung Freier Standards entgegen. Sie sammelt alltägliche Phänomene, erfasst, was ihr bei der täglichen Zeitungslektüre oder der Beobachtung ihrer Umwelt als wiederkehrendes Element auffällt, aus dem sich eine formalisierte Reihe bilden lässt. Wie könnte man beispielsweise Wolkenformationen standardisieren?

Sie versieht die Bildersammlungen mit Notizen und Kommentaren, die aus dem Informationsgewölle herauszulösen sind, legt diese in einem Karteikastensystem ab, entwickelt Stempel, Schablonen, Kastenmodule. Die aus unterschiedlichen Quellen entnommenen Materialien werden kombiniert mit eigenen Bildern, mit Interviews, Statistiken, Vermerken.

Archive sind Erinnerungsspeicher, Anhäufungen von nach System abgelegten Akten und Dokumenten. Äußerlich betrachtet agiert Metzen nach standardisierten Ordnungsstrukturen: Ablage, Gruppierung der Unterlagen in Kladden, Kisten, Karteikartenerfassung. Aber versucht man, die Informationen herauszulösen, wird es absurd – dann entdeckt man, dass der fiktionale Gehalt einer reibungslosen Recherche und Deutung widerstrebt. Nach welchen Kriterien wurden die Parameter überhaupt gesetzt? Wem soll das Ganze nutzen? Für welche Auswertung ist es gedacht? Worauf zielt diese immer weiter wuchernde Sammlung mit offenem Ergebnis?

Die Strenge der Form, die aus den archivarischen Systematisierungen erwächst, ist eine Tarnung. Denn mit den Konvoluten von Standard Euro wird eine Fiktionalisierung von Ordnung und Regelwerk betrieben. Aus dem Material ergibt sich die Kategorie. Die vermeintlich entdeckte Norm wird zur Hypothese. Durch Aufsplitten und Gliedern der Information wird diese aus dem sie zuvor umrahmenden Kontext isoliert. So zerstückelt ist sie auf neue Weise oder zum Teil auch kaum mehr lesbar. Die eingliedernde Interpretation ist ein Angebot, mit dem eine eindimensionale Engführung in einen überzeitlich schlüssigen Kanon unterbleibt. Die nicht mehr zu bewältigenden täglichen Informationsanhäufungen werden durch die Isolation einzelner Bestandteile und die nur behauptete Klärung ihres Gehalts durch die Einordnung in Freie Standards unterlaufen und in ihrer Absurdität vorgeführt. Metzens Interesse an der Manipulation von Information, an den Modi der Informationsverarbeitung, den möglichen Auswirkungen all dieser Meldungen und dem Umschlagen von Fakt in Behauptung schlägt sich so in einer Irritation des Systems nieder.

Die Ablagerungen der Sammlungen bilden sich im Raum ab: Stapelungen bezeugen Schichtungen, Kisten formieren sich zu Innenarchitekturen. Für die jeweilige Präsentation werden die Displays angepasst. Ist das Setting der Archivierung und Ablagesysteme eine „bloß“ künstlerische und damit zweckfreie Form?

Doch auch der Inhalt des Archivs wird je nach Ort seiner Auf- und Ausstellung neu fokussiert – und daraus lassen sich durchaus Erkenntnisse ableiten, die über die Feststellung einer generellen Fiktionalisierung von vermeintlich objektiven Standards hinausgehen.

Für die Sinopale 3 hat Metzen ein FeldArchiv entwickelt, in dem sie Informationen zur Abhörstation der ehemaligen, 1992 geschlossenen, us-amerikanischen Militärbasis der Stadt verwertete. Der konkrete Ort lieferte den Anlass für eine weltumspannende Recherche zu den Rückständen der Informationsnetzwerke des Kalten Krieges. Exemplarisch wird Material zu Abhörstationen an zehn Orten der Welt erfasst. Durch die temporäre Verortung des Archivs in Sinop ergibt sich ein rhizomatisches Bild. Dieses basiert auf Interviews und deren Protokollierung, wird ergänzt durch eine Weltkarte, auf der die Orte der Abhörstationen verzeichnet sind, durch in Drucken festgehaltene Spuren der Recherche, mittels Einschreibungen – also graphischen Markierungen einer Geographie. Satellitenbilder aus Google-Earth verschaffen einen objektivierbaren Abstand. Welchen Codes, Standards oder Übereinkünften folgten die Erkenntnisse der Überwachungsorgane der Geheimdienste?

Lässt sich dieses Top-Secret-Material imaginieren? Wie stehen dem die Erlebnisse und Eindrücke der vor Ort Lebenden gegenüber? Durch die Auswertung der Netzwerke von ehemaligen Basisangestellten, in denen sich die persönlichen Begegnungen und familiären Verbindungen der politisch gewollten türkisch-amerikanischen Verflechtung niederschlagen, entsteht ein Informationsknäuel. Lassen sich daraus Freie Standards ableiten? Mittels der Interviews und mit einem Zettelsystem für Kommentare der Besucher wird die Informationsbildung in Gang gesetzt. Sie wird so nicht nur im FeldArchiv zusammengetragen, sondern verflicht sich in die Stadt hinein, verselbständigt sich in Gesprächen – als Erinnerungs- und Aktualisierungswolke.